Ökumene kann auch heißen, dass Leute verschiedenster Konfessionen in einem gemeinsamen Haus leben und gemeinsam beten: im Waldhüttl.
Das Waldhüttl – eine Herberge
Das „Waldhüttl“ ein großer Bauernhof mit angrenzendem Land für Gärten, Kleinvieh und anderes mehr, beherbergt ca. 25 Armutsmigranten aus der Slowakei, Rumänien und Bulgarien. Es wurde vom Stift Wilten der Vinzenzgemeinschaft kostenlos zur Verfügung gestellt, um ArmutsmigrantInnen eine bescheidene Herberge bieten zu können. Die BewohnerInnen arbeiten als Straßenzeitungsverkäufer, als Gelegenheitsarbeiter, Musikanten oder auch Straßenkünstler.
Die Schutzheiligen der Roma
Die Vinzenzgemeinschaft wählte für diese Vinziherberge den hl. Franziskus und die hl. Sara zu Schutzpatronen. Franziskus wurde zum Schutzpatron, weil das Bauernhaus zerfallen war. Die Roma hatten die Idee das Haus wiederaufzubauen. Als der hl. Franziskus vor der zerfallenen Kirche San Damiano stand, hörte er die Stimme des Herrn: „Franceso, geh und baue meine Kirche wieder auf, die, wie du siehst, ganz zerfallen ist.“ Der Bauernhof war zerfallen, verwahrlost und unbewohnt. Die Roma waren bereit, die Kirche wiederaufzubauen. Das Kreuz von San Damiano und eine Ikone vom hl Franziskus hängen in der Hochkapelle des Waldhüttls.
Sara ist neben der hl. Maria eine Schutzpatronin der Roma und Sinti. Nach einer der zahlreichen Heiligenlegenden des Mittelalters soll Sara um das Jahr 40 mit den drei heiligen Frauen, Maria Magdalena, Maria Salome und Maria des Kleophas per Schiff nach Südfrankreich gekommen sein, wo sie eine christliche Gemeinde gründeten und die Camargue und die Provence missionierten. Für den Lebensunterhalt der Gruppe soll Sara durch Betteln und Almosen gesorgt haben. Nach einer anderen Erzählung soll Sara einer Gruppe Einheimischer angehört haben, die die Schiffbrüchigen rettete und sich später taufen ließ. Eine Ikone, auf ihr das Abbild der Sara von St. Marie de la Mer, befindet sich in der Hochkapelle.
Das Waldhüttl ist eine Kirche. Kirche bedeutet in der Tradition der Befreiungstheologie u.a. unterdrücktes, leidendes Volk Gottes, das um Befreiung kämpft. So wie das vom Pharao unterdrückte Volk mit Moses die Freiheit suchte, um das Überleben kämpfte, so suchen die missachteten, vertriebenen Roma nach dem Überleben. Sie suchten einen Platz zum Leben und fanden einen Platz im Waldhüttl. Kirche bedeutet zudem Gemeinde bzw. Gemeinschaft, die sich auf Jesus Christus beruft. Insofern steht Waldhüttl auch für eine lebendige, offenen Kirche bzw. Gemeinde.
Die Hochkapelle
Im Gemeinschaftshaus wurde von Beginn an die sogenannte Hochkapelle eingerichtet. Die Vinzenzgemeinschaft erinnerte sich an das, was Jesus tat, bevor er mit den Seinigen das Abendmahl teilte. Er ging in das Obergemach und wusch den Seinigen die Füße. Er versah symbolisch oder sakramental, aber wirklich, einen niederen Dienst und zeigte, was fortan Kirche sein sollte und muss: Dienst am Nächsten.
Eine Romnia und Nachbarn muslimischer Tradition regten an, im Gemeinschaftsraum, gleich neben der Hochkapelle, die Abbildungen einer Sure aus dem Koran, ein Abbild der Kaba anzubringen.
Ein Gebet für alle – eine ökumenische Liturgie
Jeden Samstag und auch an hohen Feiertagen (Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Todestage…) wird in der Hochkapelle gebetet. Es ist immer ein ökumenisches Gebet, manchmal auch weltökumenisch. Die Anwesenden werden gebeten, ihrer Tradition treu zu bleiben und ihre Tradition ökumenisch zu teilen. Auch Atheisten und Agnostiker sind willkommen, können sagen, warum sie da sind. Angehörige verschiedenster Religionen werden gebeten etwas von ihrer Tradition zu erzählen, wenn Muslime da sind, eventuell eine Sure aus dem Koran zu rezitieren. Anschließend werden die christlichen Traditionen gebeten, ihrer Tradition treu zu bleiben und sich in der Liturgie einzubringen. Meist sind Roma aus evangelischer, katholischer und orthodoxer Tradition dabei, einige sind auch Angehörige von Freikirchen.
Bewohner fragen auch: „Wann ist heute Kirche?“ „Ist heute Kirche?“ Zur Liturgie ruft eine kleine Kirchenglocke. Die Leitung der Liturgie übernimmt meist ein Mitglied der Vinzenzgemeinschaft. Nach der Begrüßung der TeilnehmerInnen, der Würdigung der teilnehmenden Konfessionen, spielen die Musiker, um uns zur Ruhe zu bringen, um uns in das Gebet zu führen. In einer vielsprachigen Gemeinde (ungarisch, slowakisch, rumänisch, bulgarisch, albanisch, bosnisch/kroatisch/serbisch, englisch, spanisch, deutsch…) braucht es viel Musik. Musik verstehen alle. Manche Melodien der Romamusik erzählen von Sehnsucht, von Sehnsucht nach Leben, Liebe und Gott.
Kyrie und Gloria
Meist rufen wir Gott an, ob mit dem Kyrie eleison, ob mit dem Gospodi pomilui oder auch mit einem Lied. Danach erzählen die, die wollen, was in letzter Zeit besonders gelungen ist, besonders schön war und ist, all das, wofür wir Gott loben und danken wollen:
„Heute wurde viel Holzarbeit gemacht, wir haben jetzt viel Holz zum Heizen.“
„Die Mutterschafe haben in dieser Woche ihre Lämmer bekommen, eines war schwach, es hat aber überlebt.“
„Habe Stall ausgemistet, jetzt ist er wieder sauber und schön…“
„Es blüht alles, die Vögel singen schon alle.“
„Wir sind gesund, Gott sei Dank.“
Darum loben wir dann Gott, alle Völker, alle Konfessionen: “Laudate omnes gentes…“
Fürbitten
Wir dürfen auch klagen und bitten. Vieles ist daneben gegangen, manches schmerzt:
„Meine Kinder sind krank.“
„Ich wurde heute von meinem Verkaufsplatz vertrieben und hab überhaupt nichts verdient.“
„Es gibt Krieg und Streit…“
Nach jeder Bitte singen wir das „Lasset und beten: wir bitten dich erhöre uns…“
Wir gedenken auch der Toten. Bei jeder Liturgie fallt uns jemand ein, der gerade gestorben ist oder jemand, an den wir besonders denken, der schon in den Himmel vorausgegangen ist. Für die Verstorbenen wird das Lied gesungen, oft in der orthodoxen Liturgie verwendet: „Wetschna ja pamjat…“, so transkribiert, übersetzt: Ewiges Andenken, mit den Heiligen lass sie ruhen, oh Christus!“
Das Evangelium, die Frohbotschaft
Ob uns Christus trösten kann, ob uns Christus befreien kann? Angehörige der Pfingstkirchen werden gebeten, ein Lied von Jesus zu singen, beim Refrain stimmen schon viele mit ein.
Das Evangelium, die Frohbotschaft wird angekündigt. Man versucht ein zentrales Wort im Sinne einer kommunikativen Theologie zu sammeln: Was heißt in der jeweiligen Muttersprache: „Fürchtet euch nicht“ oder „Viel Volk war versammelt“, „Licht“, „Salz“… Die Leute rufen es in ihrer Sprache in die Versammlung. Das Evangelium wird in 2 oder 3 Sprachen verlesen, es wird das Alleluja gesungen. In einfachen Worten versucht man dann das Evangelium zu erklären, reduziert bzw. verdichtet auf die wesentliche Aussage, die immer eine Frohbotschaft ist. Wenn Jesus Wunder tut, wenn er Brot vermehrt, Wein verwandelt, wenn Jesus einen guten Fischfang veranlasst… interpretieren die Teilnehmenden sofort: „Er kümmert sich um Leute, die Hunger haben“ oder „Er möchte, dass wir uns freuen, dass wir Leben haben.“ Von der Gemeinde hören wir oft und immer wieder die zentralen Aussagen der Frohbotschaft. Die Musik der Geige, der Gitarre oder auch der Ziehharmonika hilft uns dann beim Nachdenken, beim Meditieren.
Natürlich feiern wir Weihnachten von der Hl. Nacht bis zur Epiphanie (Dreikönig bzw. Taufe des Herren). Der Christbaum, eine große (!) Krippe mit dem Jesuskind mit den echten Schafen und Eseln in der Nähe darf nicht fehlen. Zu Weihnacht sitzen wir meist um das Feuer, singen „Stille Nacht“ in allen Sprachen und erfreuen uns an gegrillten Würsteln, Wein, Saft und Weihnachtskeksen.
Zu Ostern, auch da feiern wir Tod und Auferstehung. In der Liturgie wird viel ganz einfach verdichtet: es ist das Plätschern von Wasser, die Erinnerungen an die Taufe und ein tiefes Schweigen… dann das Entzünden der Osterkerze, das Licht und wieder tiefes Schweigen. Im Schweigen liegt wohl auch ein Exultet, auch wenn es nicht explizit ausgesprochen, gesungen werden kann… Danach essen wir meist das gegrillte Lammfleisch und sind oft sehr glücklich und fröhlich.
Der Hymnus
Manchmal singen wir noch den Akastisthos, den Christushymnus, auch wenn wir dazu nicht aufstehen. “Sei gegrüßt, Herr Jesus, der einer der Unsrigen wird… Du gehst dem Verlorenen nach…“ Die Leute kuscheln sich in der Hochkapelle zusammen, sitzen im Gemeinschaftsraum, manche ganz nah, manche eher im Hintergrund, jeder kann und darf sich seinen Platz suchen. Die Leute können auch zu spät kommen oder auch früher gehen. Die meisten bleiben.
Vater unser
Das Vaterunser wird zuerst und nacheinander in der jeweiligen Muttersprache gebetet. Es ist doch das Gebet, das alle Christen vereint, das Gebet, welches uns die Großväter, meist die Großmütter gelehrt haben. Einige haben das muttersprachliche Vater unser schon vergessen… wir lernen wieder zu beten. Abschließend beten wir ganz langsam, Zeile für Zeile das Vaterunser auf deutsch. Der Vorbeter betet vor, die Leute beten langsam nach. Schön, wenn das Vaterunser langsam und bewusst und feierlich gebetet wird. Das Amen singen alle, ziemlich leise, dann die Männer, dann die Frauen, dann die Kinder, dann alle gemeinsam.
Der Segen der Ökumene
Zum Segensgebet bitten wir die älteste Teilnehmerin, oder den ältesten Teilnehmer. Gott will, dass wir uns segnen, dass wir seinen Segen, sein Wohlwollen weitergeben.
Ökumene ist lebbar, wenn verschiedene Traditionen, verschiedene Konfessionen in einem Hause, in einer offenen Kirche, einem ehemaligen zerfallenen Bauernhaus, gemeinsam wohnen und auch beten.
„Respekt und Interesse“ lautet die Hausordnung. Respekt voreinander ist unabdingbare Voraussetzung, auch der Respekt vor verschiedenen Traditionen. Dazu kommt das Interesse aneinander. Wie denkt der Agnostiker? Könnte er auch ein verdrehtes Gottesbild reinigen (2. Gebot)? Koreanische Besucherinnen erinnerten uns an die Wichtigkeit der Ahnen und hinterließen in der Kapelle ein Gebet. Was tragen die Muslime bei, wenn sie die Sure vom barmherzigen Gott rezitieren? Mit welcher Mystik nähern sich die Orthodoxen Gott, mit welchen Ikonen, mit welchen Gesängen? Wie besingen die Pfingstkirchen Jesus und erzählen auch vom Hl. Geist, oftmals mit viel Alleluja?
Die Vinzenzgemeinschaft orientiert sich an den Leuten, die arm sind, die eine Unterkunft suchen, die Hunger und Durst haben. Viele MitarbeiterInnen der Innsbrucker Vinzenzgemeinschaft sind katholisch, auch der Autor. Wenn es uns gelingt, zu vermitteln, dass Leute einen Platz auf unserer Erde finden, wo sie willkommen sind, dann soll es auch die Kirche sein, die Kirche der Armen.
Zugegeben, nach der „göttlichen Liturgie“ des „Waldhüttls“ gibt es viel zum Nachdenken und Meditieren. Es ist der Vorabend zum Sonntag. Es ist Sonntag. Manchmal feiere ich noch Liturgie in der großen Jesuitenkirche von Innsbruck. Ich genieße auch die Feierlichkeiten, die Musik, die Perfektion der Lektoren, Kantoren und Prediger, das Hochgebet in all seiner theologischen und gläubigen Entfaltung, die Eucharistie… im Herzen bleibt aber auch die Sehnsucht nach einer oft hilflosen, stotternden, unvollkommenen Liturgie, nach der ökumenischen Liturgie im Waldhüttl vom Vorabend. Sie hat lange gedauert: wir teilten Brot, tranken Wein, Besucher brachten Wurst, Aufstrich und Käse, jemand kochte eine heiße Nudelsuppe für die Kinder… wir erzählten uns viel, wir lachten und freuten uns des Lebens.
Jussuf Windischer, Februar 2019